C.-Ch. Dressel u.a. (Hrsg.): Der Wiener Kongress und seine Folgen

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Titel
Der Wiener Kongress und seine Folgen. Großbritannien, Europa und der Friede im 19. und 20. Jahrhundert / Great Britain, Europe and Peace in the 19th and 20th Century


Herausgeber
Dressel, Carl-Christian; Kroll, Frank-Lothar; Redworth, Glyn
Reihe
Prinz-Albert-Studien 35
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 201 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Ries, Historisches Institut, Friedrich Schiller Universität Jena

Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine Jahrestagung der Prinz-Albert-Gesellschaft Anfang September 2015 und steht damit im Kontext der Publikationen zum 200jährigen Jubiläum des Wiener Kongresses, wobei er einen Neuakzent setzen möchte, indem nicht nur das „Ereignis“ des Kongresses, sondern auch dessen Folgen in den Blick genommen werden soll. So wichtig gerade das Thema der Folgen des Wiener Kongresses ist, so wenig – das muss man gleich zu Beginn sagen – werden die Folgen hier systematisch behandelt. Aber der Reihe nach.

Der Band ist in drei Abteilungen eingeteilt: Erstens Militär, Politik und Völkerrecht, zweitens Voraussetzungen, Inhalte und Zielsetzungen des Kongresses und drittens Folgen und Nachwirkungen. Es können hier nicht alle zehn Beiträge in extenso besprochen werden. Der erste Teil wird eröffnet von dem Eichstätter Politikwissenschaftler Stefan Schieren, der sich den Ort des Kongresses in der frühen Theorie der Internationalen Beziehungen anschaut, und zwar konkret bei zwei britischen Theoretikern, die in der Zeit des Ersten Weltkrieges im diplomatischen Dienst tätig waren: Philip Kerr und Alfred E. Zimmern. Beide beziehen sich jedoch nur vage auf den Wiener Kongress; denn für Großbritannien, dessen Weltreich sich um 1920 „in einem grundlegenden Transformationsprozess befand“ (S. 17), spielte der Kongress nur eine untergeordnete Rolle. Schieren erklärt dies sehr plausibel mit dem Niedergang der Bedeutung der alten Pentarchie-Ordnung, nachdem Italien und Deutschland ihren Einigungsprozess vollzogen hatten und die internationale Ordnung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine völlig andere war als um 1815. So kann auch eine Fehlanzeige von Erkenntniswert sein. Lothar Höbelt, Historiker aus Wien, untersucht unter dem Label „David und Goliath“ einen eher vergessenen Krieg im Umfeld des Kongresses: „The War of 1812“ zwischen den USA und Großbritannien und versucht eine „globale Interdependenz“ (S. 42) herzustellen, da der Friede von Gent, der den „War of 1812“ beendete, zeitlich mit dem Wiener Kongress zusammenfiel und dort auch „auf der psychologischen Ebene des diplomatischen Bluffs“ (S. 42), wie Metternich ihn inszenierte, seine Wirkung zeitigte.

In der zweiten Abteilung beginnt Michael Broers (Oxford) mit der Annäherung an ein imperiales Verständnis der napoleonischen Herrschaft über Europa, wobei er „the Inner and Outer Empires“ (S. 53) unterscheidet. So anregend die imperialistische und kolonialpolitische Perspektive für die napoleonische Herrschaft ist, so sehr blendet sie doch die partielle Bereitschaft der „kolonialisierten“ Völker, die den imperialistischen Missionsauftrag bereitwillig akzeptierten und auch zur eigenen Machtpolitik instrumentalisierten, aus. Mark Edward Hay (London) geht der Frage nach „how the house of Orange navigated the tumultuous diplomatic environment in 1813 to re-establish itself as the ruling dynasty of the Netherlands” (S. 67) und kann sehr einleuchtend die geschickte Diplomatie des oranischen Prinzen Wilhelm VI. vor allem gegenüber Großbritannien nachzeichnen, die ihm am Ende als Wilhelm I. den Titel des Königs der Niederlande und Großherzogs von Luxemburg eintrug. Georg Eckert widmet sich dem Verhältnis von Großbritannien und Europa am Beispiel des Wiener Kongresses, dessen Themen und Ergebnisse die britische Öffentlichkeit recht wenig interessierten. Auf der Insel ging es um andere Themen wie die Wahlrechtsreform (der Dauerbrenner des englischen Systems), die Auswirkungen der Industrialisierung, die enorme Bevölkerungsexplosion und die damit einhergehenden sozialen Proteste. Der Kongress befeuerte jedoch ein großes Thema der englischen Innenpolitik, nämlich die Debatte über die Abschaffung der Sklaverei, die auch in Wien bekanntlich eine Rolle spielte und von William Wilberforce nachdrücklich gefordert wurde. Auch Robin Blackbourn (Essex) widmet sich unter der Thema der „unexpected consequences“ vor allem der Frage der Abschaffung des atlantischen Sklavenhandels und lässt seinen Blick schweifen nach Kuba, Brasilien, Mexiko und in die USA. Wenn auch kein unmittelbarer Zusammenhang mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses hergestellt werden kann, so finden doch die verbesserten Entwicklungen im Sklavenhandel um und nach 1850 durchaus ihre Basis in Wien.

Der Beitrag von Blackbourn gehört indes schon in die letzte Abteilung der Folgen und Nachwirkungen des Kongresses, die mit einem gehaltvollen Artikel von Volker Sellin (Heidelberg) über das Problem „Restauration und europäische Friedensordnung“ eröffnet wird. Sellin setzt sich aus der Perspektive Frankreichs kritisch mit der alten These Paul W. Schroeders auseinander, wonach das Gleichgewicht der Mächte vielmehr ein Gleichgewicht von Ansprüchen und Vorteilen der einzelnen Staaten gewesen sei und nur deswegen auch so lange gehalten habe.1 Sellin hält dem mit guten Gründen die Politik Frankreichs entgegen, die erst unter Napoleon III. wieder in das Konzert der Mächte zurückkehrte und damit gewissermaßen Wien obsolet erscheinen ließ. Mit einem Seitenhieb kann Sellin auch den Begriff der „Restauration“ zurückweisen, weil er weder dem tatsächlich vorhandenen Gleichgewichtsgedanken noch den immensen Unterschieden der Restaurationsstufen in einzelnen Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien gerecht wird. Einer der Herausgeber, Carl-Christian Dressel (Erfurt), richtet anschließend den Blick auf die kleinstaatliche Perspektive und fragt nach der Überlebensstrategie von Sachsen-Coburg, das trotz Widerständen innerhalb der Bevölkerung ein „durchgehendes Interesse an Territorialerweiterungen“ (S. 159) besaß und durch geschickte Heiratspolitik auch umsetzen konnte. Dressel zieht die Linie der sachsen-coburgischen Innen- und Territorialpolitik bis in die 1850er-Jahre und wird damit dem Anspruch der dritten Abteilung des Bandes durchaus gerecht. In besonderer Weise erfüllt diesen Anspruch der Passauer Historiker Hans-Christof Kraus mit der internationalen Thematik „Zwischen Frankreich und Russland – Großbritannien und der Krimkrieg“. Kraus widmet sich zunächst der britischen Politik im Krimkrieg und schlägt dann den Bogen sowohl zurück zum Wiener Kongress, dessen Friedensordnung er durch den Krimkrieg nicht vollends zerstört sieht, als auch nach vorne zum Ersten Weltkrieg, in welchem Großbritannien 1915 seine Politik gegenüber Russland „radikal“ (S. 189) änderte und sich damit auch von den Prinzipien von 1815 verabschiedete. Der Band schließt mit einem Beitrag des ehemaligen britischen Botschafters Colin A. Munro, der den Bogen sehr weit spannt und eine Skizze „from Versailles to the Organisation for Security and Cooperation in Europe (OSCE)“ entwirft.

Der Sammelband wirft viele Probleme, die mit dem Wiener Kongress entstanden, auf. Wohltuend ist, dass er nicht immer wieder die Frage der Modernisierung oder Nicht-Modernisierung der Kongressdiplomatie, die einst von dem Buch von Paul W. Schroeder ausging2, aufgreift, sondern mehr oder weniger ruhen lässt. Eine systematische Analyse auch und vor allem der Folgen des Kongresses liefert der Band jedoch nicht.

Anmerkungen:
1 Paul W. Schroeder, Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power?, in: The American Historical Review 97 (1992), S. 683–706.
2 Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics, 1763–1848, Oxford 1994.

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